Das Rangdynamik-Modell von Raoul Schindler
Alle im Team sind auf Kurs. Nur einer schert aus. Warum sollen wir A machen, wenn B doch so viel besser ist? Wieso rechts fahren, wenn es links auch geht? Warum etwas positiv sehen, wenn es doch gar nichts Positives an der Situation gibt? Und die anderen denken sich: Es wäre alles so viel einfacher, wenn es diesen Störenfried nicht geben würde.“
Es wäre nun mehr als verlockend uns nun zu überlegen wie man diesen Störenfried auf Linie bekommen könnte. Denn schließlich ist es die Persönlichkeit dieses Gruppenmitglieds, die „einfach nicht zu uns passt“. Und dann überlegen wir vielleicht schon, wie wir diesen Störenfried loswerden.
Mit solchen (meistens unausgesprochenen) Dynamiken bin ich häufig in der Begleitung von Gruppen und Teams konfrontiert.
Äußerst kompetenzfördernd erlebe ich dann, wenn die betroffene Gruppe/das Team es schafft nicht nur jedes einzelne Gruppenmitglied mit seiner Persönlichkeit zu sehen sondern die Gruppendynamik zu erkennen und darauf entsprechend zu reagieren.
Als Erklärmodell hat sich in meiner über 10-jährigen Praxis mit Gruppen besonders bewährt:
Der österreichische Psychoanalytiker und Psychiater Raoul Schindler hat in den 50er Jahren anhand von Beobachtung verschiedenster Gruppen aus seinem Arbeitsumfeld ein Modell für die Interaktion von Gruppenmitgliedern entwickelt, das unter dem Begriff „Rangdynamik-Modell“ bekannt ist.
Als Spezialist für Familientherapie und Gruppentherapie kam er zu dem Schluss, dass dieses Modell immer funktioniert, egal ob in Schulklassen, im Freundeskreis, in Familien, Teams oder ganzen Organisationen.
Das Rangdynamikmodell ist ein Positionsmodell, nach welchem die Positionen in Gruppen durch dynamische Prozesse vergeben werden. Dabei spielt die Persönlichkeit des Individuums häufig nur eine untergeordnete Rolle. Dieses Phänomen der Positionsaufteilung erfolgt in jeder Gruppe und häufig ohne, dass es den Gruppenmitgliedern bewusst ist.
Die Hauptaussage des Modells ist: in jeder Gruppe gibt es 4 Positionen, die nicht immer alle besetzt sein müssen – je größer die Gruppe, desto wahrscheinlicher ist aber eine Besetzung aller Positionen:
Alpha
Der Alpha ist der Anführer, bestimmt die Richtung, in die sich die Gruppe bewegt, leitet die Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen Gegenüber, führt Verhandlungen und trifft Entscheidungen – legitimiert durch Überzeugungskraft und Energie. Die Entscheidungen müssen deshalb aber nicht immer die schlauesten sein.
So erkennt man einen Alpha
Er formuliert die gemeinsamen Gruppenziele, denen die anderen folgen.
Er ist der „Sprecher“ der Gruppe und repräsentiert sie nach außen.
Er verhandelt mit dem Gegenüber der Gruppe.
Er gibt die meisten inhaltlichen Impulse.
Die anderen schweigen wenn er redet.
Er erntet selten Widerspruch.
Beta
Die Beta-Position nimmt sozusagen die neutrale Rolle ein, oftmals als Spezialist oder Fachexperte. Der Experte unterstützt den Alpha und hilft ihm in seiner Position zu bleiben. Beta nimmt aber auch häufig eine Übersetzer-Position zwischen Alpha und der restlichen Gruppe ein. Mit emotionaler Zurückhaltung wirft der Beta hin und wieder sachliche Einwände ein und erklärt den anderen warum Alpha so agiert wie er agiert.
Durch seine neutrale Einstellung ist er oft nicht angreifbar. Die Betas sind meistens gute Kandidaten für den Nachfolger des Alphas, denn aufgrund seiner Unabhängigkeit können die Gammas plötzlich von seinen Ideen mehr halten und ihn zum neuen Alpha machen.
So erkennt man einen Beta:
Er gibt fachlich-sachliche Hinweise und Ratschläge.
Er argumentiert nur selten emotional oder aus dem Bauch heraus, sondern immer mit anerkanntem Fachwissen untermauert.
Er wird in schwierigen Situationen vom Alpha am ehesten zu Rate gezogen.
Er nimmt auch zu Bezugspersonen außerhalb der Gruppe Kontakt auf.
Gamma
Die Gammas lassen sich vom Alpha leiten. Der Gamma ist der Umsetzer in der Gruppe. Er arbeitet für den Alpha, ohne ihm seine Position streitig machen zu wollen.
Die Gammas sind die Gefolgschaft des Alphas. Sie unterstützen die Richtung des Alphas durch Zuarbeiten, identifizieren sich mit den von ihm vorgegebenen Zielen und haben keinen eigenen Führungsanspruch. In einer Gruppe sind die Gammas idealerweise die Mehrheit.
So erkennt man einen Gamma:
Er stimmt dem Alpha zu und bestärkt ihn in seinem Vorhaben.
Er versucht die anderen auf die Seite des Alpha zu ziehen.
Er steht hinter dem Verhalten des Alpha und versucht, es zu imitieren.
Er reagiert gelangweilt, genervt oder sogar aggressiv auf die Beiträge des Omegas.
Omega
Er ist der Gegenspieler, der Widerstand gegen die Zielerreichung ausdrückt, eingeschlagene Wege kritisch hinterfragt und mögliche Schwierigkeiten hervorhebt. Dies ist zwar einerseits äußerst wichtig für die Risiken- und Gefahrenerkennung der Gruppe, von den anderen Mitgliedern wird der Omega jedoch oft als ungeliebter Störenfried empfunden oder als Sündenbock herangezogen. Wenn die Gruppe beispielsweise harmonisch zusammenarbeitet, könnte Omega den Streit suchen. Er ist Kritiker, Nörgler und Blockierer. Der Omega erkennt früh, was in der Gruppe fehlt oder nicht funktioniert – was das Team nicht immer toll findet. Kompetente Alphas integrieren ihn und räumen ihm beispielsweise eine Sonderrolle ein.
So erkennt man einen Omega
Er reagiert am stärksten gegen Alpha und zieht in die Gegenrichtung.
Er wird dafür von den Gammas bestraft.
Er wird am ehesten als lästig oder störend empfunden.
Er wird gern als Sündenbock herangezogen.
Er wird mit seinen Einwänden und kritischen Fragen als Hindernis für eine schnelle Lösung oder Entscheidung betrachtet.
Wichtig:
Sollten Alpha oder Omega aus irgendeinem Grund die Gruppe verlassen, wird ein anderer an deren Stelle treten. Ein Anführer sowie der Gegenpol zum Alpha, ein kritischer Geist, sind in jeder Gruppe vorhanden und notwendig.
Die Positionen sind nicht fest und verändern sich auch in den unterschiedlichen Phasen einer Gruppe.
Die Positionen können unabhängig von der formellen Macht bestehen, die jemand hat – dann hat ein Leiter zwar den Titel, geführt wird die Gruppe aber von dem, der die Alpha-Position inne hat. Es ist die Person, in deren Richtung alle Blick schweifen, wenn es um Entscheidungen geht oder deren Meinung die anderen folgen.
Die Positionen zeigen sich auch in selbstorganisierten Teams ohne „offizielle“ Hierarchie. Die häufig beschworene Gleichheit ist ein Mythos. Es ist aber in gut entwickelten selbstorganisierten Teams wahrscheinlicher, dass die Positionen öfter wechseln und sie bewusst reflektiert werden – vor allem, wenn dies von der Führung aktiv unterstützt wird.
Fazit:
Kompetente Teams (und Berater/Supervisoren/Coaches) erkennen Prozesse in Gruppen und versuchen nicht Konflikte auf die Persönlichkeiten einzelner Gruppenmitglieder zu reduzieren.
Vielmehr geht es darum die Dynamik der Gruppe zu erkennen, sie zu reflektieren und destruktive Tendenzen wie das Ausgrenzen von Personen zu verstehen, den anderen bewusst zu machen und konstruktiv zu bleiben/werden.
Comentarios